Montag, 23. Februar 2009

Todesanzeige.

Am wichtigsten war mir immer, wie alt die Gestorbenen geworden waren. Blitzschnell überflog ich die Geburts- und Sterbedaten, und je näher ein Geburtsdatum an meinem eigenen Geburtsdatum lag, desto beklommener wurde mir.

Auch an diesem Samstagmorgen im Bus studierte ich sorgfältig die Todesanzeigen. Eine Erna Bierhaus war siebenundneunzig Jahre alt geworden, ein Dr. Dr. Johann Grigoleit war nur dreiundfünfzig Jahre lang lebendig gewesen, und eine Isabelle Haberkorn war sogar nur einundvierzig Jahre gewesen, ehe sie plötzlich und unerwartet mitten aus dem Leben gerissen worden war. Außerdem war ein Peter Rupp gestorben, der es aber tatsächlich fertig gebracht hatte, hundert Jahre alt zu werden. Ich wollte die Zeitung gerade wieder zur Seite legen, als mein Blick noch einmal auf das Geburtsdatum des hundertjährigen Peter Rupp fiel. Nur weil die Zahlen in alter Schreibweise geschrieben waren, war es mir nicht sofort aufgefallen: Der Tote hatte zusammen mit mir Geburtstag! Da stand mein Geburtsdatum! Ich spürte, wie ich mich beim Luftholen verhaspelte, das war ein schlechtes Zeichen. Ein Alarmzeichen! Ich durfte jetzt auf keinen Fall weiterdenken! Ich presste meine Stirn gegen die Busscheibe. Aber es nützte nichts. In mir drin begann es bedrohlich zu summen, und wie immer, wenn ich in Panik geriet, fing alles um mich herum an, zu wanken und sich zu drehen.

"Hilfe", flüsterte ich. Nach dem Geburtsdatum kam das Sterbedatum, bei jedem Menschen auf Erden war das so, irgendwann. Jeder König, jeder Präsident, jeder Kisoskbeseitzer, jeder Pfarrer und sogar jeder Papst hatte eines Tages ein Sterbedatum. Und wie wir jedes Jahr unserem Geburtsdatum begegneten, so begegneten wir eigentlich jedes Jahr unserem zukünftigem Sterbedatum, nur wussten wir es nicht. Jeder Tag kam in Frage. Und eines Tages würde dieses Datum auf unserem Grabstein stehen..

Ich rang nach Luft. Heute war Samstag - vielleicht würde ich an einem Samstag sterben. Oder im März. Ich warf einen fahrigen Blick auf das heutige Datum., das in großen Lettern auf der zerknitterten Zeitung neben mir stand. Heute war der 19. März. Vielleicht würde ich also an einem 19. März sterben, und dann würde dieses Datum unwiderruflich zu mir gehören wie mein Geburtstag.

Mein Onkel hatte schließlich all die Jahre, bis er starb, nie ein Problem mit dem 28. Juli gehabt. Der 28. Juli war immer ein ganz normaler, harmloser Sommertag Ende Juli gewesen. Nie hatte mein Onkel am 28. Juli ein ungutes Gefühl gehabt, wieso sollte er auch? Und doch hatte ein 28. Juli ihn getötet. Der 28. Juli war seitdem ein schreckliches Datum.


Ich sah, wie meine Hände zitterten. Meine Beine zitterten auch. Sogar meine Schultern zitterten. Ich versuchte damit aufzuhören, ich versuchte, mich ganz fest auf meinen Sitzplatz zu pressen, aber es nützte nichts, ich zitterte weiter, es kam mir so vor, als würde sogar mein Kopf wackeln.
Auszug aus; Verrückt vor Angst von Jana Frey - Seite 49, 50

1 Kommentar:

  1. irgendwie schwierig, aber dieser Konflikt existiert ja wirklich. Das Geburtsdatum ist dieses Hochheitsdatum, es gehört zur eigenen Persönlichkeit, könnte man sagen. Das Todesdatum wird es auch. Es geht nicht um Zufall, dass der alte Mann am selben Tag geboren wurde. Eher um diese Verbindung. Und sein Onkel am 28. Juli. Wann habe ich Geburtstag? Am 28., habe gerade auch so ein seltsames Gefühl.

    Danke fürs Abtippen, muss sicher eine Heidenarbeit gewesen sein.

    AntwortenLöschen